01.11.2011

Happy Halloween wünscht das ROOMS!

"Der Hochzeitstanz" - geschrieben von kimba


„Mein Gott, es giesst ja wie aus Kübeln, und dann dieser Nebel..., ich kann kaum die Strasse sehen", stöhnte Mike und starrte angestrengt auf die Strasse. Die Scheinwerfer beleuchteten nur ein kurzes Stück des schwarzen Asphalts vor Ihnen, und der Nebel, dick wie Suppe, warf das Licht zurück, sodass er sich vorkam, als führe er blind. Die Sicht betrug kaum 5 Meter, und er nahm den Fuss vom Gas und liess den Wagen im Schritttempo fahren. Sollte ein Hindernis auf der Strasse sein, würde er es sonst erst sehen, wenn er es schon praktisch überrollt hätte.

„Ja, wirklich übel", stimmte ihm Jenny zu, die neben ihm sass und die Hände angespannt im Schoss verschränkt hatte. Sie hasste es, bei solchem Wetter unterwegs zu sein. Zum Glück war Mike ein umsichtiger Fahrer, der sein Tempo den Verhältnissen anpasste. Dennoch, durch diesen wabernden Nebel zu schleichen zerrte an ihren Nerven. Sie sah auf die Uhr. 23.10 Uhr, sie hätten schon vor mehr als einer Stunde in ihrem Hotel einchecken sollen. Sie hoffte, dass die Rezeption noch offen war, wenn sie ankamen, sie hatte keine Lust, die Nacht im Auto zu verbringen. „Wie weit ist es noch?", fragte sie, und Mike zuckte mit den Schultern.

„Ehrlich gesagt hab ich keine Ahnung. Ich bin mir nicht mal sicher, dass wir hier richtig sind." Jenny sah ihn überrascht an. „Du meinst, wir haben uns verfahren?" „Kann gut sein. Auf der Karte war eine Abzweigung markiert, aber seit einer geschlagenen Stunde fahren wir nun auf dieser Strasse, und keine Abzweigung weit und breit. Ich fürchte, wir haben sie verpasst." Angepannt sah er nach draussen. „Kein Wunder", fügte er hinzu, „man sieht ja die Hand vor Augen nicht, geschweige denn ein kleines Strassenschild. Wenn die Gegend wenigstens nicht so unbewohnt wäre. Keine Häuser, kein Stall, kein gar nichts. Man möchte meinen, wir seien auf dem Mond und nicht in Schottland. Und seit wir auf diese Strasse eingebogen sind, ist uns kein einziges Auto begegnet. Ich fürchte wirklich, wir sind hier völlig falsch."


Jenny nickte. „Das denke ich auch. Das Hotel ist doch recht gross und bekannt, da müsste doch wenigstens hin und wieder ein Auto auf der Strecke sein, auch wenn das Hotel selbst abgelegen liegt. Ich werde nochmal auf der Karte nachsehen." Sie öffnete das Handschuhfach und zog die Strassenkarte heraus. Langsam srich sie mit dem Finger der Route entlang, die sie gekommen waren. „Also bis hierher ist es klar", meinte sie und tippte mit dem Finger auf eine Stelle. „Als wir aus dem Dorf raus waren, sind wir rechts abgebogen, genau wie auf der Karte vermerkt. Allerdings sind es bis zur Abzweigung zum Hotel dann nur noch 20 Kilometer, also nicht mehr als 20 Minuten auf dieser Strasse, nun gut, sagen wir 40 Minuten, weil wir so langsam fahren mussten. Dennoch, wir müssten schon dran vorbei sein."

Sie sah Mike an, und dieser nickte. „Du hast recht. Selbst bei diesem Tempo sind wir schon weiter gefahren, als wir sollten. Ich werde wenden." Er setzte den Blinker und schlug das Steuerrad ein, als er es sah. Der Randstreifen, an dem Gras wuchs, war unterbrochen, und eine schmale Strasse zweigte ab. „Das ist es!", rief Mike erfreut und deutete nach links.

Jenny folgte seinem Blick und sah es ebenfalls. „Das kann nicht sein, die Strasse ist viel zu schmal und ausserdem nicht mal geteert. Das ist niemals die Strasse zum Hotel." „Hm", machte Mike. Er fuhr ein Stück weiter, wendete den Wagen und fuhr wieder zu der Stelle, an der das Strässchen abzweigte. Er liess das Fenster hinunter und streckte den Kopf hinaus. „Kein Schild zu sehen. Du hast recht, das ist nicht der Weg zum Hotel." Rasch zog er den Kopf wieder zurück, um dem Regen zu entkommen. „Fahren wir zurück. In spätestens einer Stunde sind wir wieder im Dorf. Vielleicht finden wir da eine Pension oder so."

Doch Jenny schüttelte den Kopf. „Schau mal. Ein Licht." Und sie deutete nach vorn. Der Nebel hatte sich etwas gelichtet, und sie konnten deutlich das Licht sehen, das aus einem Fenster eines grossen Gebäudes zu kommen schien, von welchem nur die schwarze Silhoutte zu sehen war. Es sah aus wie ein uraltes Schloss, gross und schwarz dräuend stand es da, etwa 100 Meter hinter der Abzweigung. Nicht gerade einladend. Aber es war bewohnt, das war die Hauptsache. Irgendjemand wohnte dort und war noch wach. Sie sahen einander an, und Mike hob fragend die Augenbrauen. Jenny überlegte einen Moment, dann nickte sie. Auch wenn das Gemäuer nicht gerade vertrauenerweckend aussah, so war es doch besser, als eine Stunde lang in dieser Suppe herumzuschleichen. Wenn sie Pech hatten, bauten sie einen Unfall oder verfuhren sich nochmal, sodass sie vielleicht nicht mal mehr zum Dorf zurückfanden. Der Besitzer des Anwesens würde ihnen sagen können, wie weit es noch war bis zum Hotel.

Mike legte den Gang ein und fuhr los. Langsam fuhren sie den Weg entlang, der immer holpriger wurde, je näher sie dem Gebäude kamen. Es stand auf einer kleinen Erhebung, und je näher sie kamen, desto dünner wurde der Nebel. Jenny sah nach hinten. Die Rücklichter ihres Wagens beleuchteten den Nebel und liessen ihn rot erglühen. Schwaden waberten um das Heck herum, und Jenny lief eine Gänsehaut über den Rücken. Seltsam, es sah fast so aus, als würde der Nebel ihnen hinterherkriechen, sich hinter ihnen schliessen, wie eine lebendige Wand. Sie sah zu Mike, und der lächelte sie an. „Was ist denn?", fragte er, als er sah, wie nervös sie war. „Ach nichts", meinte sie leichthin und zwang sich zu lächeln. Was für absurde Gedanken sie doch hatte, schalt sie sich selbst. Aber ihre Nerven waren in letzter Zeit nicht mehr die besten.

All die Hochzeitsvorbereitungen, die Organisation..., und noch immer war ihr Kleid nicht fertig. Dabei sollte die Hochzeit mit Mike in 2 Wochen stattfinden, und so langsam wurde Jenny von Panik ergriffen, ob sie das alles bis dahin schaffen würde. Mike, der ihre Anspannung und Gereiztheit mit engelsgleicher Geduld ertragen hatte, hatte sie am Tag zuvor dann plötzlich mit diesem Kurztrip in die Highlands überrascht. Zuerst war sie wütend geworden, hatte abgelehnt und ihm vorgerechnet, was noch alles zu erledigen war bis zum Hochzeitstermin. Sie hatten keine Zeit für Ausflüge. Er jedoch hatte nur gegrinst und ihr mit niederschmetternder Logik klargemacht, dass sie am Wochenende sowieso nichts von dem erledigen konnte, was noch anstand. Das Kleid würde nicht schneller fertigwerden, ob sie nun da war oder nicht, und der Termin für die Probe in der Kirche war erst nächste Woche. Sie würden also nichts verpassen. Nun waren sie also hier in dieser gottverlassenen Gegend und schlichen in der Dunkelheit herum, anstatt gemütlich im Bett zu liegen.

Jenny seufzte. Sie war ungerecht, das wusste sie, schliesslich konnte Mike nichts für das Wetter. Aber ihre Gemütslage war nunmal momentan nicht die beste. Mittlerweile waren sie beim Anwesen angelangt, und Mike hielt direkt vor der Tür. Es war kein Schloss, wie sie zuerst gedacht hatte, es war vielmehr ein altes, riesiges Herrenhaus, aus dunkelgrauem Naturstein erbaut, mit diversen Kaminen und Sprossenfenstern. Es wirkte düster und wuchtig. In der Einfahrt stand ein schmiedeeisernes Schild, glänzend poliert, auf dem der Name des Anwesens zu lesen war. „Darkwater Hill". Jenny sah, dass im zweiten der drei Stockwerke Licht brannte, ein flackerndes Licht wie von einer Laterne oder einer Kerze. „Haben die hier keinen Strom?", fragte Jenny flüsternd. Mike zuckte die Schultern. „Ich weiss nicht, ich habe keine Stromleitungen bemerkt. Aber vielleicht ist der Strom ja auch ausgefallen, bei diesem Wetter wäre das kein Wunder. Wollen wir dann?"

Er öffnete die Tür, stieg aus und rannte zur Tür. Dann winkte er Jenny zu. „Komm schon!", rief er, und Jenny öffnete die Tür. Ihr war nicht wohl bei der Sache, am liebsten wäre sie nun doch umgekehrt. Das Auto schien ihr der bessere Platz zu sein als dieses Haus. Sie schalt sich eine Närrin. Das war nur ein Haus, und mehr als wegschicken konnte sie der Besitzer ja wohl nicht. Also stieg sie aus und lief eilig zu Mike. „Was hast du denn?", fragte er, „du zitterst ja. Ist dir kalt?" Jenny schüttelte den Kopf. „Nein, mir ist nicht kalt, ich finde es hier nur so unheimlich." Und sie schlang die Arme um sich und schüttelte sich. „Angst?", fragte Mike grinsend. „Pass auf, gleich kommt ein Zombie aus der Tür und frisst dich auf", lachte er. „Haha, sehr komisch", fauchte Jenny und sah ihn böse an. „Tut mir leid, war doch nur ein kleiner Scherz", meinte Mike und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „So, besser? Tut mir wirklich leid, ich weiss, dass du in letzter Zeit viel um die Ohren hattest, und dieser Ausflug ging ja wohl auch ziemlich in die Hose", fügte er zerknirscht an und strich ihr eine Strähne ihres Haars hinters Ohr. Jenny lächelte, wieder besänftigt, zog seinen Kopf zu sich herunter und gab ihm einen kurzen Kuss auf den Mund. „Ist ja nicht deine Schuld. Für das Wetter bist du ja nicht verantwortlich. Und nun klopf an, damit wir endlich wissen, wo wir sind."

Mike zog den Eisenring zurück, der als Türklopfer diente, und liess ihn fallen. Ein lauter Knall ertönte, und beide fuhren erschreckt zusammen. Mike verzog beschämt das Gesicht. „Ups, ich wusste nicht, dass das so laut ist. Hätte das Ding wohl nicht so gegen die Tür krachen lassen sollen. Na, wenigstens kann man das nicht überhört haben." Und richtig, kaum war der Donnerhall verklungen, hörte man Schritte, die auf sie zukamen. Die Tür wurde aufgezogen, und ein älterer, kleiner Mann mit schütterem weissem Haar sah sie fragend an.

„Ja bitte?", fragte er, und sein Tonfall liess Mike grinsen. Das Männchen klang wie eine Maus, hoch und piepsig, und die Stimme war brüchig wie altes Papier. Schnell versteckte Mike sein Grinsen hinter seiner Hand, aber der Alte hatte es wohl doch gesehen, denn er sah Mike strafend an und runzelte die Stirn. Rasch trat Jenny vor. „Guten Abend, Sir. Es tut uns sehr leid, sie so spät noch zu belästigen, aber wir haben uns verfahren. Könnten Sie uns freundlicherweise sagen, wo sich das Seaside-Hotel befindet? Verzeihung, ich bin übrigens Jenny Wilbur." Und sie lächelte den Mann an. Dieser schien sich bei Jennys gewählter Sprache wieder zu beruhigen, und er wandte sich zu Jenny und sah sie wohlwollend an. Dann deutete er eine Verbeugung an und stellte sich seinerseits vor. „Hamish McAbernathy, Mylady, stets zu Diensten." Bei diesen Worten drehte sich Mike um und zählte bis zehn. Und dann bis zwanzig, weil er sein Gesicht kaum unter Kontrolle bekam. Jenny stiess ihm den Ellenbogen in die Rippen, und er riss sich zusammen und drehte sich wieder zu Mr. McAbernathy um. Er streckte ihm die Hand hin. „Sehr erfreut. Mein Name ist Mike Denton, ich bin der Verlobte von Miss Wilbur." Der Alte sah Mike an, dann dessen Hand, die er ignorierte. Er begnügte sich mit einem knappen Nicken, bevor er sich wieder zu Jenny wandte. „Aber selbstverständlich erkläre ich Ihnen gern den Weg. Sie haben eine Abzweigung verpasst. Aber kommen Sie doch erstmal rein und wärmen Sie sich auf." Er machte eine einladende Geste, und Jenny lächelte und trat ein. Der Mann war wirklich sehr nett, und ihr ungutes Gefühl war verflogen.

Mike jedoch blieb auf der Schwelle stehen. Der Mann hatte nichts für ihn übrig, das war deutlich zu sehen. Kein Wunder, er war nicht gerade feinfühlig gewesen. Sich über ihn lustig zu machen war nicht sehr nett gewesen. Aber da war noch etwas anderes, etwas, was er nicht recht greifen konnte. McAbernathy bemerkte sein Zögern, sah ihn einen Moment nachdenklich an, dann erhellte ein Lächeln seine Züge. „Kommen Sie, ich beisse nicht. Wollen Sie Ihre Verlobte ohne eine Stärkung die ganze restliche Strecke fahren lassen? Es ist noch ein ziemliches Stück bis zum Hotel. Sie wollen doch sicher das beste für sie?" „Natürlich will ich das", antwortete Mike, und trat über die Schwelle. Nach diesem Argument konnte er schlecht nein sagen, er wäre dagestanden wie ein unsensibler Idiot. So blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Alten in sein Haus zu folgen. Er trat in die Halle, und McAbernathy schloss hinter ihm die schwere Tür. Der Knall der zufallenden Tür hallte durch den Raum, und Mike schauderte. Es klang, als würde die Tür einer Gefängniszelle zugeschlagen.

„Bitte, setzen Sie sich doch", forderte McAbernathy die beiden auf und zeigte in den Salon, in dem ein altes verschnörkeltes Sofa stand. Im Kamin brannte ein Feuer, und auf dem Tischchen neben dem Sofa stand ein Kerzenleuchter, dessen 5 Kerzen einen sanften Lichtschein verbreiteten. Mike und Jenny traten zum Sofa und liessen sich vorsichtig nieder. „Ein Tässchen Tee?", fragte der Alte freundlich. „Wir wollen Ihnen keine Umstände bereiten", meinte Jenny, und Mike fügte hinzu: „Wenn Sie uns einfach sagen könnten, wie wir zum Hotel gelangen, dann lassen wir Sie wieder in Ruhe." „Aber nicht doch, es macht mir doch keine Umstände. Ich habe sehr selten Besuch hier oben und freue mich immer, neue Gesichter zu sehen. Gönnen Sie einem alten einsamen Mann diese kleine Freude." Mit diesen Worten verliess er den Salon und liess die beiden allein.

Mike und Jenny sahen einander an, und Mike zuckte die Schultern. „Was solls", flüsterte er, „der Mann ist einsam. Verbringen wir halt ein paar Minuten hier. Er lebt hier offenbar ganz allein." In diesem Moment hörten sie über ihren Köpfen laute, rhythmische Schritte, es klang, als würde jemand im oberen Stock umherhüpfen. Sie hoben die Köpfe und starrten erstaunt nach oben. Hüpfte der Alte da oben herum oder war doch noch jemand im Haus? Das Poltern hörte so schnell auf, wie es begonnen hatte, und in diesem Augenblick kam McAbernathy wieder herein, beladen mit einem Tablett, auf dem zwei Tassen und ein Schälchen mit Gebäck standen. Er stellte das Tablett auf den Tisch, nahm eine Tasse und hielt sie Jenny hin. „Hier, trinken Sie, köstlicher Kräutertee. Ein Stück Gebäck dazu?" Auch Mike streckte er eine Tasse hin, die dieser zögernd annahm. Er trank gerade den ersten Schluck Tee, als das Gepoltere von oben wieder losging.

McAbernathy erschrak, dann fasste er sich und lächelte. „Keine Sorge, das ist nur meine Tochter Meredith. Sie tanzt gerne. Lassen Sie sich nicht davon stören, trinken Sie nur weiter." Und er zeigte auffordernd auf die Tasse, die Mike hatte sinken lassen. Diesem war mittlerweile nicht mehr geheuer. Der Alte starrte ihn an, als würde er sich auf etwas freuen, und seine plötzliche Freundlichkeit war auch verdächtig. „Mr McAbernathy, ich will ja nicht unhöflich sein, aber es ist schon spät, beinah Mitternacht, und wir sollten wirklich aufbrechen, wenn wir noch heute Nacht das Hotel erreichen wollen. Wenn Sie uns nun also den Weg beschreiben könnten...", forderte Mike, um Höflichkeit bemüht. „Natürlich, sofort. Wie gedankenlos von mir. Trinken Sie schnell aus, damit ich den Tisch abräumen kann. Wir brauchen Platz für die Karte." Mike seufzte. Na endlich, dachte er. Er führte die Tasse zu seinem Mund und trank den Tee in einem Zug leer. Dann stellte er die Tasse aufs Tablett. Jenny tat es ihm nach, wenn auch erstaunt über Mikes plötzliche Eile. Das Poltern aus dem oberen Stock schien immer lauter zu werden, die Schritte schneller. Wie alt wohl McAbernathy Tochter war? Es klang, als würde ein Kleinkind Ringelreihen tanzen.

„Nicht Ringelreihen", flüsterte der Alte, „den Hochzeitstanz." Mike riss die Augen auf, die ihm zugefallen waren, und starrte den Mann an, der dicht vor ihn getreten war und nun lächelte, in den Augen ein triumphierendes Glitzern. Hinter ihm schlug die Standuhr die Stunde. Mike versuchte aufzustehen, aber seine Knie gaben nach, sein ganzer Körper schien aus Gummi zu bestehen. Er drehte mühsam den Kopf zu Jenny. Die aber war auf dem Sofa zusammengesunken und rührte sich nicht. „Jenny?", krächzte Mike panisch. Was ging hier vor? Lebte Jenny noch? Der Alte musste den Tee vergiftet haben. Sie würden beide sterben. Er beugte sich zu Jenny und versuchte sie aufzuheben. Aber seine Glieder versagten den Dienst, und er sank über den leblosen Körper seiner Verlobten. Er warf einen letzten Blick zu McAbernathy, der nun lauthals lachte. „Endlich", waren die letzten Worte, die er noch verstand, bevor er ins Dunkel sank, „habe ich es geschafft. Meredith, Schätzchen, komm her und sieh dir an, was ich dir gebracht habe..."


Jenny erwachte davon, dass etwas über ihr Gesicht kroch. Sie strich sich über die Haut und merkte, dass es Feuchtigkeit war, die ihr übers Gesicht rann. Sie öffnete die Augen. Und blinzelte verwirrt. Der Morgen war angebrochen, das erste Licht des Tages erschien am Horizont, und langsam wurde es heller. Sie schaute sich um. Wo war sie hier? Sie lag inmitten von Sträuchern und Büschen, und sie setzte sich auf. Unter ihr quietschte etwas. Sie sah hinunter und bemerkte, dass sie auf einem uralten, vergammelten, halb zerfallenen Sofa sass, oder dem, was davon übrig war. Es war russgeschwärzt und voller Löcher, die Farbe undefinierbar, und die Füllung war herausgequollen und hatte sich mit der Erde vermischt zu einem Brei, in dem Pflanzen wuchsen. Jenny sprang auf. Wo war Mike? „Mike, wo bist du?", schrie sie und rannte zwischen den kleinen Büschen hindurch. Sie drehte sich um die eigene Achse und begriff plötzlich, dass sie sich in einer Ruine befand. Nur die Reste der Grundmauern waren noch vorhanden, einzelne Ziegel lagen herum, und ein paar schwarze Dachbalken lagen am Boden, von Moos überwuchert. Wie war sie hierhergekommen? Und wo um Himmels willen war Mike abgeblieben? Sie trat über einen Mauerrest, blieb mit dem Fuss hängen und schlug der Länge nach hin.

Und starrte direkt auf ein verrostetes Schild, das vor ihr am Boden lag. „Darkwater Hill", stand darauf. Sie traute ihren Augen nicht. Das konnte doch nicht möglich sein! Das Schild hatte letzte Nacht vor der Tür gestanden, das Haus war intakt gewesen. Das musste ein Irrtum sein. In diesem Moment vernahm sie ein leises Singen. Sie rappelte sich auf und sah in Richtung des Geräusches. Eine junge Frau in einem altmodischen weissen Kleid stand mitten in dem, was von dem Haus übriggeblieben war, und tanzte. Das musste McAbernathys Tochter sein. „Hallo", rief Jenny und wollte auf die Person zugehen. Diese sah lächelnd zu ihr hinüber und streckte die Hand nach etwas aus. Ein Mann in einem Frack trat neben sie, und sie strich ihm zärtlich übers Gesicht. Eine Hochzeit? Hier mitten in diesen Ruinen?, wunderte sich Jenny.

Plötzlich hörte sie neben sich eine Stimme. „Es tut mir leid, Miss Wilbur", flüsterte McAbernathy ihr ins Ohr, „aber meine Tochter war so lange allein. Sechzig lange einsame Jahre. Es war in der Nacht vor ihrer Hochzeit. Eine Kerze fiel um, und das Haus brannte ab. Alle konnten sich retten, nur Meredith und ich nicht. Ich habe ihr versprochen, ich würde einen neuen Bräutigam für sie finden, irgendwann. Und so haben wir gewartet. Und nun ist es endlich soweit. Endlich kann meine kleine Tochter heiraten, und wir können gehen." Die Stimme verklang, und McAbernathy war verschwunden. Jenny sah schaudernd wieder zu dem Brautpaar hinüber. Der Bräutigam drehte seinen Kopf zu ihr, und seine braunen Augen sahen sie wehmütig an. „Mike!", rief Jenny, und Tränen rannen ihr übers Gesicht. Mike warf ihr ein letztes trauriges Lächeln zu, dann schien er durchsichtig zu werden, und schliesslich verschwanden die beiden vor ihren Augen ins Nichts...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen